Es gilt das gesprochene Wort.
Rede des Oberbürgermeisters Felix Heinrichs
Liebe Festgäste,
ich begrüße Sie herzlich im Haus Erholung zur Verleihung eines besonderen Preises an einen außergewöhnlichen Preisträger. Ich freue mich sehr, den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck und den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, in Mönchengladbach willkommen zu heißen.
Ich begrüße auch die Gäste von Bundes- und Landesebene, die Bürgermeisterin unserer Partnerstadt Roermond sowie die Mitglieder von Vorstand und Kuratorium des Vereins „Benediktpreis von Mönchengladbach“. Herzlichen Dank dem Vitus-Quartett der Niederrheinischen Sinfoniker für den lebendigen Auftakt der Feierstunde sowie der Gladbacher Bank für die großzügige Unterstützung.
Meine Damen und Herren,
in einer Zeit, in der sich scheinbar alles ändert, ist es gut, Konstanten zu erkennen. Die Verleihung des Benediktpreises hier in Mönchengladbach ist so eine Konstante. Über 828 Jahre hinweg – zwischen 974 und 1802 – waren es die Mönche, die hier in dieser Stadt lebten und arbeiteten. Sie hatten ihr irdisches Dasein der Nachfolge jenes heiligen Benedikts verschrieben, der sich der Seelsorge an den Menschen gewidmet hatte.
Jüngst sind die Mönche noch einmal sehr in das Bewusstsein dieser Stadt gerückt. Wenige Meter von hier entfernt ruht die Münster-Basilika erhaben und wachsam über der Stadt. Zwischen Kirche und ehemaligem Prälaturgebäude, dem heutigen Rathaus Abtei, liegt der Brunnenhof, der nun mit großem ehrenamtlichen Engagement, privaten Spenden und einer stolzen Fördersumme des Landes Nordrhein-Westfalen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Bei den Arbeiten in diesem Hof, in dem auch wieder die alte Gebäudestruktur mit Kreuzgang und Innenhöfen zu erkennen ist, sind an der Kirchenmauer die sterblichen Überreste von Mönchen aus dem Mittelalter gefunden und nach Abschluss der Arbeiten auch wieder beigesetzt worden. Hier liegen die Gebeine von Menschen, die dort, wo wir heute stehen und gehen, ihr Werk vollbracht haben. Mir wird in solchen Momenten bewusst, wie sehr wir alle doch nur wenige Millimeter auf dem Maßband der Zeit ausmachen. Obwohl wir uns zum Mittelpunkt der Welt erklären, sind wir doch nur vergängliche Akteure einer unbegreiflichen Ewigkeit.
Dieser Gedanke darf nicht dazu führen, das eigene Handeln für bedeutungslos zu erachten. Nein, ganz im Gegenteil. Auch wenn wir für die große Menschheitsgeschichte nur Sandkörner sein mögen, sind wir doch für unser direktes Umfeld, unsere Familien, unsere Arbeitsstätten und im Fall eines Bundespräsidenten außer Dienst, auch für unsere Gesellschaft wichtige Leuchttürme.
Sie, lieber Herr Gauck, haben es zeitlebens verstanden, Vorbild zu sein. Und daher ist es mir und uns allen eine besondere Ehre, Sie heute in unserer Stadt Mönchengladbach willkommen heißen zu dürfen.
Vor kurzem habe ich mich in Ihr jüngstes Buch, „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, vertieft, das Sie gemeinsam mit Helga Hirsch 2023 veröffentlicht haben.
Darin stellen Sie mit Blick auf die globalen Entwicklungen die provokante Frage (S. 8): „Und wäre unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie notfalls mit Entschlossenheit zu verteidigen?“ Ich kann Ihnen sagen, dass die Menschen hier am Niederrhein Flagge zeigen. Am 25. Januar dieses Jahres kamen rund 10.000 Menschen wenige Meter von hier entfernt zu einer Demonstration für Demokratie zusammen. Für viele von ihnen war es die erste Demonstration in ihrem Leben. Und als im Mai zwei Steine gegen Einrichtungen der Lebenshilfe geworfen wurden, die die Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ trugen, stellten sich viele Menschen an die Seite und auch mutig vor die Bewohnerinnen und Bewohner.
Ich kann und will nicht behaupten, dass es in unserer Stadt ausschließlich lupenreine – lassen Sie mich diese Vokabel bewusst provokant benutzen – Demokraten gibt. Aber die Hoffnung, dass wir in der absoluten Mehrzahl sind, haben diese beiden Ereignisse beflügelt.
Nun schauen wir dabei aber nur auf einen kleinen Ausschnitt unserer Welt. Wie sieht es in anderen Teilen aus? Und – ich hätte nicht gedacht, dass sich diese Frage noch einmal so deutlich stellt – ist es überhaupt unsere Verantwortung, für die Werte einer liberalen Demokratie, für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für den Schutz von Minderheiten an anderen Orten einzutreten? Die aktuelle Debatte über Entwicklungshilfe fördert politische Äußerungen zu Tage, die eher unter das Motto „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ passen. Mich bedrückt das. Denn wir leben in der Einen Welt und den Menschenrechten ordnen wir doch nicht zufällig das Adjektiv „universell“ zu.
Ich frage: Sind Werte ortsgebunden? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als Frau in Deutschland oder Afghanistan lebe? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als Demokrat in Großbritannien oder Russland lebe? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als queere Person in New York oder Teheran lebe?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es geht mir nicht um kulturelle Hegemonie. Ich möchte keiner Gesellschaft, keinem Land aus einer eurozentrischen Weltsicht heraus Vorschriften machen. Aber genau bei diesen Grundwerten des menschlichen Zusammenlebens darf es doch keine Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West geben.
Sie, verehrter Herr Gauck, haben dazu wie folgt Stellung bezogen (S. 137-138): „Demokratie wird für mich stets mit dem Moment der Befreiung von Unterdrückung und Ohnmacht verbunden bleiben.“ Und weiter: „Die liberale Demokratie verkörpert für mich ein System, das sich zur unantastbaren Würde des Einzelnen bekennt, ein System, in dem alle die gleichen Rechte haben, ein System, in dem niemand daran gehindert wird, sein Leben nach eigenen Fähigkeiten und Wünschen zu gestalten – außer er schädigt andere.“ Ihre Formulierung des kategorischen Imperativs sollte für uns alle Ansporn sein, eben nicht nur vor die eigene Haustüre zu schauen, sondern Demokratiebewegungen weltweit zu unterstützen. Denn nur eine liberale Demokratie, die von den Menschen erstritten und gleichsam verteidigt wird, bietet den Rahmen, in dem die universellen Menschenrechte zur Geltung kommen können – unabhängig, wo auf der Erde ein Mensch lebt.
Lieber Herr Gauck,
Mönchengladbach ist die richtige Stadt für Sie. Die Menschen sind sozial engagiert; das ist seit Jahrhunderten unsere Tradition. Gerade haben wir mit der ukrainischen Stadt Poltava eine Solidaritätspartnerschaft geschlossen. Mit dem Distrikt Offinso in Ghana verbindet uns eine Entwicklungspartnerschaft bereits seit 2004. Vor kurzem haben sich ein Jugendparlament und auch ein Seniorenrat konstituiert. Mit unseren europäischen Partnerstädten lebt gerade der freundschaftliche Austausch wieder auf und es ist mir eine große Freude und Ehre, meine Kollegin aus Roermond, Yolanda Hoogtanders, unter den Gästen zu wissen. In Roermond fiel der erste Schuss auf niederländischem Boden im Zweiten Weltkrieg. Heute sind wir eng in Frieden und Freundschaft verbunden. Welch wundervolle Wendung des Schicksals, gegründet auf der Verständigung zwischen den Völkern nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges, der von deutschem Boden ausging. Für mich die größte Leistung der Staatsmänner und –frauen in der Mitte Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges.
Wir sind heute hier versammelt, nicht nur, um Ihnen, Herr Gauck, zu gratulieren. Wir sind zusammengekommen, um an die Geschichte unserer Stadt zu erinnern und zu mahnen, dass es mutiger Menschen bedarf, die für unsere Werte einer liberalen Demokratie einstehen. Damit wir auf die Frage „Und wäre unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie notfalls mit Entschlossenheit zu verteidigen?“ geschlossen und unumstößlich antworten können: Ja.
Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch!