Bundespräsident a. D. Joachim Gauck wurde am 5. Dezember 2024 mit dem Benediktpreis von Mönchengladbach, einer der wichtigsten Auszeichnungen in Nordrhein-Westfalen, vor etwa 300 geladenen Gästen im Haus Erholung zu Mönchengladbach geehrt.

In seiner Laudatio hob Ministerpräsident Hendrik Wüst besonders Gaucks Einsatz für eine wehrhafte Demokratie, Freiheit und christliche Werte hervor. Er betonte, dass Gauck stets eine klare Haltung hatte und sich nicht scheute, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Bereits 2014, und zwar vor der Annexion der Krim durch Russland, hatte er dazu aufgerufen, sich nicht vor der deutschen Geschichte zu verstecken und sich für die nationale Sicherheit und die Demokratie stärker zu engagieren. In der Flüchtlingskrise 2015 warnte er vor den Grenzen der Belastbarkeit und mahnte eine ausgewogene, aber entschlossene Haltung im Sinne eines Gleichgewichts zwischen den Anforderungen durch Migration und den Menschenrechten an. Gauck wurde von dem Laudator als ein Menschenrechtsverteidiger und ein Mutmacher beschrieben, der nie den Weg des einfachen Konsenses wählt, sondern sich für die langfristige Wahrung von Werten einsetzt.

Gaucks Biographie ist stark von den Erfahrungen mit einem totalitären System geprägt. Aufgewachsen in der DDR, erlebte er den Druck eines sozialistischen Regimes und engagierte sich als evangelischer Pfarrer in der kirchlichen Opposition. Nach dem Fall der Mauer nahm er eine führende Rolle in der Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“ ein und setzte sich für die Demokratisierung der ehemaligen DDR ein. Als Vorsitzender des Sonderausschusses zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit trug er maßgeblich dazu bei, dass die demokratischen Werte auch in diesem Teil Deutschlands Realität wurden. Seine zehnjährige Tätigkeit als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen bestärkte seine konsequente freiheitliche Haltung.

Auch nach seiner Zeit als Bundespräsident (2012-2017) engagiert sich Gauck weiterhin für die freiheitliche Demokratie. In öffentlichen Äußerungen und in seinen Büchern warnt er regelmäßig vor drohenden Gefahren, aktuell insbesondere auch durch grenzüberschreitende, autoritäre Tendenzen in Russland oder auch in anderen Staaten. Gaucks christlich geprägtes Wertefundament bildet dabei die Basis seiner politischen Überzeugungen. Er versteht sich als Vermittler, der in einer zunehmend polarisierten Welt die Zuversicht in die Stärke der Demokratie bewahren möchte.

Oberbürgermeister Felix Heinrichs würdigte Gauck als eine Persönlichkeit, die durch klare Haltung und mit hohem Engagement Verantwortung für Staat und Gesellschaft übernommen habe und immer noch übernimmt und vorbildhaft in ihrer Mahnung zur Verteidigung der Demokratie sei. Seine Ideen, betonte Heinrichs, würden in Mönchengladbach immer wieder gelebt.

Ulrich M. Harnacke, Vorsitzender des Vereins Benediktpreis von Mönchengladbach, erinnerte in seiner Rede an den Namensgeber des Preises, den heiligen Benedikt von Nursia, der für die Einheit von Glaube und Vernunft steht und sich als Brückenbauer zwischen Kulturen, Ideen und Menschen versteht. Diese Werte seien heute ebenso aktuell wie zu seiner Zeit. Gauck, so Harnacke, teile diese Werte. Er mache immer wieder das hohe Gut der Freiheit in Verantwortung bewusst und fordere zu Vertrauen in die Stärke unserer Demokratie und in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes auf.

Joachim Gauck unterstrich in seinen Dankesworten diese Haltung. In einer bemerkenswerten Rede setzte er einen Schwerpunkt auf die Bedrohung von Freiheit und Demokratie durch Russland unter Wladimir Putin und dessen Angriffskrieg in der Ukraine, den er als gegenwärtig größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit Europas bezeichnete.

Der Geehrte, der sich zeitlebens für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hat, hob angesichts der geradezu dramatischen Bedrohung dieser Werte durch den russischen Angriffskrieg die Bedeutung einer stabilen, freiheitlich-demokratischen, wehrhaften Gesellschaft als besonders wichtig hervor. Er appellierte an die westlichen Demokratien, sich engagiert für diese Werte einzusetzen und betonte besonders die Bedeutung von Mut und glaubwürdiger Abschreckung bis hin zu militärischer Entschlossenheit.

Gauck kündigte an, das Preisgeld von 5000 Euro für die Unterstützung der Ukraine zu spenden, die seiner Meinung nach dringend die Unterstützung der westlichen Welt benötigt.

Seine Ausführungen wurden mit stehendem Applaus gewürdigt.

Der Festakt wurde durch das Vitus-Quartett der Niederrheinischen Sinfoniker musikalisch begleitet und klang in einem Empfang in den Gesellschaftsräumen der Erholung aus.

Joachim Gauck - Eintrag ins Goldene Buch

Joachim Gauck

Verleihung des Benediktpreises von Mönchengladbach

  1. Dezember 2024, Mönchengladbach

Dankesrede des Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck

Es gilt das gesprochene Wort.

Haben Sie herzlichen Dank für diese schöne Einladung nach Mönchengladbach. Einige von Ihnen wissen es vielleicht: Obwohl ich aus dem Norden stamme, empfinde ich eine besondere Verbundenheit zu Nordrhein-Westfalen und seinen Menschen. Ich komme immer wieder gerne in diesen Teil unseres Landes. Herr Ministerpräsident, ich danke Ihnen von Herzen für Ihre bewegenden Worte zu meinem Wirken.

Den Benediktpreis von Mönchengladbach nehme ich mit großer Dankbarkeit und zugleich mit Demut entgegen. Besonders freue ich mich darüber, dass das Kuratorium auf die enge Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung verwiesen hat, die zu betonen mir zeit meines erwachsenen Lebens wichtig war. Wenn wir Benedikts Namen nennen, erscheinen vor unserem geistigen Auge die langen Linien einer Glaubens-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des alten Europas. Das mönchische Lebensprinzip des „Ora et labora“ verweist uns auf eine Tradition, in der die Hinwendung zu Gott nicht automatisch zur Weltflucht führte, sondern auch zu einem verantwortungsvollen Dasein im Hier und Jetzt. Die wilden Landschaften der Natur und der menschlichen Seelen waren Arbeitsfelder der Mönche vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit. Dies und unzählige Taten der Nächstenliebe gehörten zu den Bausteinen eines Europas, in dem später die kostbare Idee der Demokratie entstand und schließlich politische Wirklichkeit wurde.

Allerdings müssen wir heute mit Erschrecken wahrnehmen, dass diese demokratische Wirklichkeit kein sicheres und unbedrohtes Gut darstellt. Besonders irritiert mich, der ich im Krieg geboren bin, dass Krieg wieder zu einem Mittel der Politik geworden ist.

Seit vielen Jahren schon agiert der Kreml-Herrscher in der internationalen Politik mit offener Aggression, neoimperialer Gewalt und hybrider Kriegsführung. Sein Angriff gilt aktuell der Ukraine, auf längere Hinsicht hingegen dem gesamten Westen. Dieser Wertegemeinschaft für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat Putin offen seine Feindschaft erklärt. Denn die Ideen des Westens sind ansteckend – schauen wir dieser Tage nur einmal auf die Straßen von Tiflis oder Batumi. Für den Kreml hingegen sind freie Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, eine Bedrohung. Daher bauen die russischen Behörden auch nach innen einen immer drakonischeren Repressions- und Angstapparat auf, in dem Rechtsbeugung, politische Drangsalierung und Mord an der Tagesordnung sind.

Wir dürfen uns nicht fürchten, Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn dies zunächst verstörend erscheinen mag. Wir haben diese Feindschaft zu Putins Russland nicht geschaffen. Wir haben sie zu unserem Schrecken wahrnehmen müssen. Und wir werden sie nicht aufheben können, wenn wir sie ignorieren oder uns schönreden. Russland bleibt langfristig, so lehren es die Fakten und so sagen es unsere Sicherheitsbehörden, die größte und unmittelbarste Bedrohung für unsere Sicherheit.

Seine Wirtschaft und Gesellschaft hat Russland inzwischen ganz auf Krieg ausgerichtet. Berichten zufolge produziert es mehr militärische Güter, als es für den Krieg gegen die Ukraine benötigt. In fünf bis acht Jahren dürfte es personell und materiell zu einem Angriff auf die NATO in der Lage sein. Selbst wenn es augenblicklich noch keine Hinweise für konkrete Absichten Moskaus gibt, wächst in den kommenden Jahren das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung. Dabei dürfte es Moskau gar nicht um „eine weiträumige Landnahme“ (BND-Präsident Bruno Kahl) gehen, sondern um ein Scheitern der NATO als Verteidigungsbündnis – um eine substanzielle Schwächung des Gegners. Moskau will spalten und testen: Würde die NATO tatsächlich zur Beistandspflicht stehen, wenn der Bündnisfall ausgerufen würde? Oder würde eine Politik von verlockenden Angebote einerseits und massiven Drohungen andererseits die europäischen Länder spalten? Würde eine zermürbende hybride Kriegsführung die freien Gesellschaften einschüchtern und das Verteidigungsbündnis zerbrechen lassen?

Zu lange waren wir zu arglos. Über Jahrzehnte war die deutsche Russlandpolitik von Fehleinschätzungen geprägt, von denen wir uns bis heute weiter befreien müssen. Eine der großen Illusionen war die Annahme, wirtschaftliche Verflechtungen könnten Frieden und Stabilität garantieren. Ich nenne nur das Stichwort Nordstream 2. Für diese Art der Partnerschaft braucht es glaubwürdige und verlässliche Partner auf der Gegenseite.  Während der 90er Jahre gab es noch ein zukunftsgerichtetes geregeltes Miteinander zwischen der NATO und Russland. Etwa seit 2005 hat Putin die Gegnerschaft zu Deutschland und dem Westen immer unverhohlener vorangetrieben. Er ist bis heute davon besessen, die „größte geopolitische Katastrophe“, wie er das Ende der Sowjetunion begreift, wettzumachen. Wir mussten lernen, dass es autoritäre Regime gibt, die kein Interesse an Dialog haben, sondern auf Machtpolitik und letztlich auf Unterwerfung setzen.

Und wir haben immer noch zu lernen, dass der Kreml schon jetzt und ganz ohne uniformierte Truppen die offenen Gesellschaften des Westens zu seinen Gunsten zu beeinflussen versucht. Dazu gehören Spionage und Sabotage, Cyberattacken auf Institutionen, Parteien und Personen. Dazu gehören aber auch Fakenews und Desinformation. An den politischen Rändern in Deutschland wird mit großem Eifer daran gearbeitet, zu verschleiern, wer Aggressor und wer Opfer im Ukrainekrieg ist. Auf zahllosen Webseiten wird das neoimperiale Russland als potenzieller Partner gepriesen, der uns billige Energie liefern könnte. Sie wollten den eigenen Wohlstand nicht für den Sieg in der Ukraine opfern, erklären empathielose Bürger – oder sind es bloß aus Russland bezahlte Trolle, die unsere demokratischen Diskurse vergiften? Wir hören auch gebetsmühlenartig vorgetragene Forderungen nach einem Ende der Waffenlieferungen und einem schnellen Friedensschluss. Es sind Erzählungen, die vom Geist der Unterwerfung infiziert sind und sich trefflich in die russische Staatspropaganda einfügen. Sie verbreiten sich über das Netz ebenso wie in Talkshowformaten. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird so Schritt für Schritt erschwert.

In Teilen der deutschen Bevölkerung nehme ich eine Zurückhaltung wahr, sich den beschriebenen vielfältigen Bedrohungen aus Russland entschlossen entgegenzustellen. Das hat auch mit Deutschlands Geschichte und seinem besonderen Verhältnis zum Frieden zu tun. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich in Europa ein tief verwurzeltes Friedensstreben. Doch Frieden hängt nicht allein vom guten Willen ab. Er verlangt auch die Bereitschaft, Werte zu verteidigen – wenn nötig, mit militärischer Entschlossenheit.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Putin ging es im Fall der Ukraine nie um ernsthafte Verhandlungen. Sein Ziel bleibt die vollständige Unterwerfung. Er will einen Vasallenstaat. Ohne entschiedene Gegenwehr wird er weitermachen, bis er die Ukraine die Knie gezwungen hat. Denn selbst die tapfersten Kämpfer und die leidensbereiten Bürger können ihr Land auf Dauer nicht ohne ausreichende Unterstützung und militärische Ausstattung verteidigen.

Wesentlich von uns, vom Westen hängt es ab, welcher Frieden für die Ukraine geschlossen wird. Wir müssen alles daran setzen, dass es nicht zu einem Diktatfrieden kommt. Das ist auch eine Lehre aus den Minsk-Prozessen. Wer für Frieden durch einen Stopp der Waffenlieferungen plädiert, stimmt einem Ausbluten der Ukraine zu und nimmt ihre vollständige Unterwerfung unter russische Kontrolle in Kauf. Aber auch, wer heute für eine Besonnenheit plädiert, die dem Opfer nicht erlaubt, ebenbürtig mit dem Aggressor zu verhandeln, muss später unter Umständen einen viel höheren Preis bezahlen. Ein Frieden zugunsten Putins eröffnet dann keine Nachkriegszeit, sondern eine Vorkriegszeit.

Krieg darf als Mittel der Politik in Europa nicht belohnt werden. Wir brauchen Geschlossenheit und Entschlossenheit gegenüber Putin. Nur ein Frieden durch Stärke weist dass kriegslüsterne Russland in seine Schranken – und sichert die Freiheit in der unabhängigen Ukraine ebenso wie den Frieden im demokratischen Europa. Ein Sieg Russlands hätte nicht nur weitere massive Fluchtbewegungen zur Folge. Er würde die Grundlagen des internationalen Rechts erschüttern und weltweit Autokraten ermutigen, ihre territorialen oder machtpolitischen Ambitionen mit Gewalt durchzusetzen.

Die Solidarität mit der Ukraine ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern eine strategische Notwendigkeit für Deutschland und Europa. Ganz ungeachtet dessen, welche Auswirkungen die Wahl des amerikanischen Präsidenten für die Ukraine und die NATO haben wird. Klar ist auf jeden Fall: Auf Europa und Deutschland kommt mehr Verantwortung zu. Wir brauchen eine Ostpolitik, die die europäische Einheit unseres Militärbündnisses wahrt und den Aggressor durch glaubwürdige Abschreckung von weiteren Angriffen abhält.

Deswegen benötigt die Ukraine gerade jetzt umso mehr die entschlossene Unterstützung des Westens. Sie braucht Waffen und Munition, um Putins zynische Kalkulation zu verändern und sich eine starke Position am Verhandlungstisch zu verschaffen. Und sie braucht eine verlässliche Sicherheitsgarantie durch den Westen für die Zeit nach einem Friedens- bzw. Waffenstillstandsbeschluss, um Putin von weiteren Raubzügen abzuhalten. So widersinnig es für manche auch klingen mag: Die Ukraine braucht Waffen für den Frieden.

Denken Sie nur daran, wie der Zweite Weltkrieg geendet hätte, ohne den Einsatz von unzähligen Soldaten und Waffen gegen den Aggressor. Über ganz Europa würde die Hakenkreuzfahne wehen.

Als Gesellschaft dürfen wir keine Scheu davor haben, die uns aufgezwungene Feindschaft von Putins Russland klar zu benennen. Dazu ist es notwendig, dass sicherheits- und verteidigungspolitische Prioritäten in der Mitte der Gesellschaft besprochen werden. Nur so kann der notwendige Mentalitätswandel vorangetrieben werden. Wir brauchen eine echte Zeitenwende – auch in den Köpfen der Menschen.

Die Grundlage dafür scheint mir gegeben, denn die Bevölkerung nimmt Russland mehrheitlich als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahr. Eine absolute Mehrheit befürwortet eine weitere Aufstockung der finanziellen und personellen Ressourcen der Bundeswehr. Es macht auch Mut zu sehen, dass immer mehr Menschen die Notwendigkeit erkennen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Besonders erfreulich ist der Zulauf, den Organisationen wie die freiwilligen Feuerwehren und das Technische Hilfswerk erfahren. Dieses Engagement zeigt, dass die Gesellschaft zusammensteht und sich für schwierige Zeiten rüstet – ein starkes Signal in herausfordernden Zeiten.

Wir dürfen uns nicht wieder der Illusion hingeben, dass Frieden und Sicherheit selbstverständlich sind. Wir spüren vielmehr: Recht, Freiheit, Demokratie und die damit verbundene Verantwortung, die uns allen als Bürgerinnen und Bürger einer freien Gesellschaft auferlegt ist, sind Errungenschaften, die es aktiv zu bewahren und gegen ihre Feinde zu verteidigen gilt. Die Werte, für die wir stehen, und die Gemeinschaft, die wir bilden, sind unsere stärksten Waffen gegen Aggression und Spaltung. Anstatt unseren Ängsten zu folgen, sollten wir Mut und Entschlossenheit wählen. Angst zu empfinden, ist menschlich. Aber wir dürfen nie vergessen: Auch Mut ist eine menschliche Möglichkeit.

Wenn Sie zur Weihnachtszeit überlegen, wohin Sie spenden können: Denken Sie an die Menschen in der Ukraine, die ihr Land im anbrechenden dritten Kriegswinter weiterhin so tapfer verteidigen. Das heutige Preisgeld geht für humanitäre Zwecke an die ukrainische Botschaft.

In diesem Sinne bedanke ich mich für die Auszeichnung mit dem Benediktpreis von Mönchengladbach.

Es gilt das gesprochene Wort.

Laudatio von Ministerpräsident Hendrik Wüst MdL

auf Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck anlässlich der Verleihung des Benediktpreises Mönchengladbach 2024

Donnerstag, 5. Dezember 2024

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Heinrichs, sehr geehrter Herr Prof. Kania,

sehr geehrter Herr Harnacke,

sehr geehrte Mitglieder des Kuratoriums und des Vorstands des Benediktpreisvereins,

ich grüße die Abgeordneten des Landtags Vanessa Odermatt und Jochen Klenner, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Hoogtanders,

meine Damen und Herren und vor allem: verehrter Herr Bundespräsident, lieber Joachim Gauck,

„Ora et labora“ – so lautet das Motto der Benediktiner. Des Ordens, der über Jahrhunderte die Stadt Mönchengladbach geprägt und ihr ihren Namen gegeben hat. Des Ordens, nach dem auch der Benediktpreis benannt ist. „Ora et labora“ – das Motto passt auch sehr gut zu der Persönlichkeit, die wir heute ehren: „Bete und arbeite“. Reflexion und Aktion. Das verkörpert der heutige Preisträger Joachim Gauck in Reinform.

Haltung und Wirken von Joachim Gauck sind ganz wesentlich in seiner Biographie begründet.

Joachim Gauck hat schon als Kind begriffen, dass sich hinter der fürsorglichen Fassade des SED-Regimes ein brutaler Staatsapparat verbarg. Sein eigener Vater wurde Anfang der 1950er Jahre wegen vermeintlicher Spionage und antisowjetischer Hetze nach Sibirien verschleppt. Erst nach vier Jahren kehrte er zurück – als gebrochener Mann.

Joachim Gauck machte fortan deutlich, wie wenig er von diesem Staat hielt. Als Folge durfte er seine Wunschfächer – Journalismus und Literatur – nicht studieren. So war das in der DDR: Wer es wagte zu widersprechen, wer seine Stimme erhob, der sollte kleingemacht und kleingehalten werden.

Aber Joachim Gauck ließ sich nicht kleinmachen: In der Theologie fand er einen Raum der intellektuellen Unabhängigkeit. Einen Gegenentwurf zum Leben in einem repressiven Staat. Er wurde schließlich zum unüberhörbaren Prediger der Freiheit.

„Wir werden bleiben, wenn wir gehen dürfen“, rief er 1988 auf dem Rostocker Kirchentag. Er selbst aber dachte nicht an Ausreise. Sein Credo: Nur von innen heraus, nur durch Engagement lässt sich etwas verändern.

Nach dem Ende der SED-Diktatur kämpfte Gauck unermüdlich darum, dass die Stasi-Akten nicht nur erhalten blieben, sondern auch erforscht und zugänglich gemacht wurden. Joachim Gauck weiß: Eine Gesellschaft muss sich auch ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Nur dann können Wunden heilen.

Die Antwort von Joachim Gauck auf die Repressionen des SED-Regimes war Klarheit: In den eigenen Werten, in der eigenen Haltung, in seinen Taten. Klarheit hat sein Wirken geprägt als Pastor in der DDR, als Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR und nach der Friedlichen Revolution als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde.

Ihre Klarheit hat Sie, lieber Joachim Gauck, auch als unser Staatsoberhaupt ausgezeichnet. Die politischen Einflussmöglichkeiten eines Bundespräsidenten sind begrenzt. Sein wichtigstes Werkzeug ist das Wort.

Joachim Gauck wusste es zu nutzen.

Verehrter Herr Bundespräsident, Sie haben Debatten angestoßen. Die vielen Begegnungen mit den Menschen in allen Teilen der Republik haben Sie genutzt, um diese Debatten ins Land zu tragen. Nie belehrend, sondern immer fragend, immer neugierig, immer auf der Suche nach Begegnung, immer den Menschen zugewandt.

Sie haben die Menschen ermutigt und ihnen zugetraut, auch Anstrengendes auszuhalten. Und Sie haben auch als Bundespräsident unbequeme Wahrheiten klar ausgesprochen. Bei uns sagt man: Der kann Tacheles reden!

Anfang 2014 hat Joachim Gauck eine ungewöhnlich klare und weitsichtige Position zu Deutschlands internationaler Rolle formuliert. Das war noch vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und vor dem Donbass- Krieg.

Der Kernsatz seiner Rede bei der 50. Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 lautete: „Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.“ Er warnte vor moralischer Selbstgerechtigkeit. Davor, sich hinter der deutschen Geschichte zu verstecken. Davor, dass auch Nicht- Handeln Konsequenzen hat. Er mahnte an, wir Deutschen müssten mehr für unsere eigene und die internationale Sicherheit tun.

Joachim Gauck hat damals vieles von dem vorweggenommen, was uns heute beschäftigt. Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat unvorstellbares Leid verursacht und die europäische Sicherheitsarchitektur schwer erschüttert. Erst seitdem beschäftigen wir uns in Deutschland ernsthaft mit der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Umso aktueller und klarsichtiger sind die Warnungen von Joachim Gauck von vor zehn Jahren gewesen.

Lieber Joachim Gauck, Sie ermutigen uns, aus der deutschen Nachkriegsgeschichte positivere Schlüsse zu ziehen und uns selbst zu vertrauen. Sie erinnern uns daran, dass wir friedfertig und wehrhaft zugleich sein können. Deutschland muss diese Fähigkeit neu erlernen. Für dieses Umdenken haben Sie wichtige und weitsichtige Impulse gegeben. Herzlichen Dank, lieber Herr Bundespräsident.

Unvergessen bleibt Ihr Satz aus September 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“. Sie haben damals sehr vielen Menschen aus der Seele gesprochen. Gerade auch den engagierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und vielen Ehrenamtlern, die die Grenzen der Belastbarkeit gespürt haben. Die vielfach schon da überlastet

waren. Sie haben diese Worte gewählt, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – sich in der damaligen öffentlichen Debatte kaum jemand getraut hat, so etwas zu sagen. Sie haben ein Dilemma benannt, das uns bis heute – fast zehn Jahre später – weiter beschäftigt. Bis heute ist unser Land auf der Suche nach einem guten Gleichgewicht zwischen Humanität und Ordnung in der Flüchtlingspolitik. Ihre Aussage ist dabei wegweisend geblieben. Wäre sie früher auch handlungsleitend geworden: Ich bin sicher, wir hätten heute einige Herausforderungen weniger in unserem Land.

Joachim Gauck hat unsere Gesellschaft immer als Bürgergesellschaft verstanden. Als Gesellschaft, die von Bürgerinnen und Bürgern getragen wird. Als Gesellschaft, die von einer lebendigen Demokratie geprägt wird. Die Demokratie an der Basis zu stärken, ist deshalb eines seiner größten Anliegen. Joachim Gauck wirbt für Toleranz, für einen lebendigen Austausch mit Andersdenkenden. Er warnt davor, unbequeme Positionen vorschnell mit dem Etikett des Populismus zu versehen und aus dem Diskurs auszugrenzen. Er pocht darauf, dass bei allen Kultur- und Wertekonflikten der nötige Respekt für das Gegenüber und für seine Lebensleistung erhalten bleiben.

Lieber Herr Gauck, die Haltung, die Sie vorleben – neugierig, empathisch und zugleich wertebewusst und entschlossen – ist für unsere Gesellschaft zukunftsweisend. Ihr Stil – streitbar, aber nie konfrontativ – ist das Ideal des demokratischen Miteinanders. Sie erinnern uns alle, dass die „Demokratie kein politisches Versandhaus ist“ (Rede zum Ende der Amtszeit 2017) und deswegen nur funktionieren kann, wenn aktive Bürger Einfluss nehmen.

Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn viele Bürgerinnen und Bürger sich entscheiden, ihren Blick auf Chancen und Potenziale statt auf Gefahren und Verluste zu richten. Wenn viele Bürgerinnen und Bürger die vielfältigen Möglichkeiten der politischen Gestaltung nutzen und diese als wirksam und ermächtigend erleben. In Ihren Worten: „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.“

Lieber Herr Gauck,

von Ihnen kamen wichtige Impulse zu vielen Themen: Zur Frage, wie es um Chancengerechtigkeit in der Bildung steht

Zur Rolle der individuellen Verantwortung im Sozialstaat. Um nur zwei zu nennen.

Ihr Glaube an die Lernfähigkeit einer Demokratie ist unerschütterlich. Gerade weil Sie die Diktatur schmerzlich kennengelernt haben, wissen Sie um die Stärken der Demokratie. Und Sie haben diese Stärken auch im Ausland offen benannt und beworben, ohne jemals belehrend zu sein. Demokratien zeichnet die Fähigkeit zur Selbstkorrektur aus. Darin liegt ihre Kraft. Ja, Demokratie ist meistens anstrengend, bisweilen gar frustrierend. Aber durch Wahlen, das Mitmachen in Parteien und Verbänden, durch Mitbestimmung oder auch Protest besteht immer die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und es besser zu machen.

Den Glauben an die Stärke und die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie brauchen wir heute dringender denn je. Auch in Deutschland und in Europa verlieren viele Menschen das Vertrauen, dass der Staat mit den Problemen zurechtkommen kann: Bei Fragen der Sicherheit, der Migration, der Wirtschaftspolitik.

Es ist unsere Aufgabe als Demokraten der Mitte mit unserer Politik für neues Vertrauen zu sorgen. Es ist unsere Aufgabe, unsere Demokratie stark zu machen. Wir müssen die Menschen für unsere Demokratie begeistern. Die Menschen müssen in ihren Herzen spüren: Es gibt nichts Besseres als unsere Demokratie.

In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Ein berühmtes Bild zeigt, wie Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates das gerade verabschiedete Grundgesetz in Bonn mit Tinte unterzeichnet. Die Gründungsstunde unserer Demokratie. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist es gelungen, unser Grundgesetz in die Form synthetischer DNA zu bringen. Forensiker wissen: DNA ist nahezu unzerstörbar.

Ich habe die Freude und Ehre, verehrter Herr Bundespräsident, Ihnen heute einen Füller zu schenken. In diesem Füller befindet sich Tinte, die diese synthetische DNA und damit das gesamte Grundgesetz enthält. Das klingt ein bisschen nach Science- Fiction. Aber es ist so: Wer diese DNA entschlüsselt, hat das gesamte Grundgesetz

vor sich. Was immer Sie mit dieser Tinte schreiben – der Geist des Grundgesetzes schreibt mit. Und damit schließt sich ein schöner Kreis: Denn Sie, lieber Joachim Gauck, stehen für die Werte dieses Grundgesetzes und damit unserer freiheitlichen Demokratie wie wohl kaum ein Zweiter.

Joachim Gauck ist nun seit sieben Jahren Bundespräsident a.D., wie es im Amtsdeutsch heißt. Außer Dienst aber ist er nicht. Auch kurz vor seinem 85. Geburtstag ist er überaus präsent: in der öffentlichen Debatte, durch seine Reden und Auftritte, durch seine Besuche bei gemeinnützigen Initiativen und Vereinen.

Joachim Gauck ist jemand, der etwas zu sagen hat, dessen Wort gehört wird und Gewicht hat. Joachim Gauck ist jemand, der nicht nur beeindruckt, sondern inspiriert.

Verehrter Herr Bundespräsident, Sie sind ein Menschenrechtsverteidiger. Sie sind ein Mutmacher. Sie geben Zuversicht: Der Preis, den Sie heute erhalten, steht für unsere christlichen Wurzeln und für die bürgerlichen Errungenschaften der Aufklärung. Beide Traditionen verbinden sich in Ihrem Wirken zum Wohle unseres Landes: Für ein freiheitliches und demokratisches Deutschland, das sich selbst vertraut und für das Gute eintritt.

Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Benediktpreis!

Verleihung des Benediktpreises an Bundespräsident a. D. Joachim Gauck

5. Dezember 2024
Rede des Oberbürgermeisters Felix Heinrichs

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Festgäste,

ich begrüße Sie herzlich im Haus Erholung zur Verleihung eines besonderen Preises an einen außergewöhnlichen Preisträger. Ich freue mich sehr, den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck und den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, in Mönchengladbach willkommen zu heißen.

Ich begrüße auch die Gäste von Bundes- und Landesebene, die Bürgermeisterin unserer Partnerstadt Roermond sowie die Mitglieder von Vorstand und Kuratorium des Vereins „Benediktpreis von Mönchengladbach“. Herzlichen Dank dem Vitus-Quartett der Niederrheinischen Sinfoniker für den lebendigen Auftakt der Feierstunde sowie der Gladbacher Bank für die großzügige Unterstützung.

Meine Damen und Herren,
in einer Zeit, in der sich scheinbar alles ändert, ist es gut, Konstanten zu erkennen. Die Verleihung des Benediktpreises hier in Mönchengladbach ist so eine Konstante. Über 828 Jahre hinweg – zwischen 974 und 1802 – waren es die Mönche, die hier in dieser Stadt lebten und arbeiteten. Sie hatten ihr irdisches Dasein der Nachfolge jenes heiligen Benedikts verschrieben, der sich der Seelsorge an den Menschen gewidmet hatte.

Jüngst sind die Mönche noch einmal sehr in das Bewusstsein dieser Stadt gerückt. Wenige Meter von hier entfernt ruht die Münster-Basilika erhaben und wachsam über der Stadt. Zwischen Kirche und ehemaligem Prälaturgebäude, dem heutigen Rathaus Abtei, liegt der Brunnenhof, der nun mit großem ehrenamtlichen Engagement, privaten Spenden und einer stolzen Fördersumme des Landes Nordrhein-Westfalen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Bei den Arbeiten in diesem Hof, in dem auch wieder die alte Gebäudestruktur mit Kreuzgang und Innenhöfen zu erkennen ist, sind an der Kirchenmauer die sterblichen Überreste von Mönchen aus dem Mittelalter gefunden und nach Abschluss der Arbeiten auch wieder beigesetzt worden. Hier liegen die Gebeine von Menschen, die dort, wo wir heute stehen und gehen, ihr Werk vollbracht haben. Mir wird in solchen Momenten bewusst, wie sehr wir alle doch nur wenige Millimeter auf dem Maßband der Zeit ausmachen. Obwohl wir uns zum Mittelpunkt der Welt erklären, sind wir doch nur vergängliche Akteure einer unbegreiflichen Ewigkeit.

Dieser Gedanke darf nicht dazu führen, das eigene Handeln für bedeutungslos zu erachten. Nein, ganz im Gegenteil. Auch wenn wir für die große Menschheitsgeschichte nur Sandkörner sein mögen, sind wir doch für unser direktes Umfeld, unsere Familien, unsere Arbeitsstätten und im Fall eines Bundespräsidenten außer Dienst, auch für unsere Gesellschaft wichtige Leuchttürme.

Sie, lieber Herr Gauck, haben es zeitlebens verstanden, Vorbild zu sein. Und daher ist es mir und uns allen eine besondere Ehre, Sie heute in unserer Stadt Mönchengladbach willkommen heißen zu dürfen.

Vor kurzem habe ich mich in Ihr jüngstes Buch, „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, vertieft, das Sie gemeinsam mit Helga Hirsch 2023 veröffentlicht haben.

Darin stellen Sie mit Blick auf die globalen Entwicklungen die provokante Frage (S. 8): „Und wäre unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie notfalls mit Entschlossenheit zu verteidigen?“ Ich kann Ihnen sagen, dass die Menschen hier am Niederrhein Flagge zeigen. Am 25. Januar dieses Jahres kamen rund 10.000 Menschen wenige Meter von hier entfernt zu einer Demonstration für Demokratie zusammen. Für viele von ihnen war es die erste Demonstration in ihrem Leben. Und als im Mai zwei Steine gegen Einrichtungen der Lebenshilfe geworfen wurden, die die Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ trugen, stellten sich viele Menschen an die Seite und auch mutig vor die Bewohnerinnen und Bewohner.

Ich kann und will nicht behaupten, dass es in unserer Stadt ausschließlich lupenreine – lassen Sie mich diese Vokabel bewusst provokant benutzen – Demokraten gibt. Aber die Hoffnung, dass wir in der absoluten Mehrzahl sind, haben diese beiden Ereignisse beflügelt.

Nun schauen wir dabei aber nur auf einen kleinen Ausschnitt unserer Welt. Wie sieht es in anderen Teilen aus? Und – ich hätte nicht gedacht, dass sich diese Frage noch einmal so deutlich stellt – ist es überhaupt unsere Verantwortung, für die Werte einer liberalen Demokratie, für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für den Schutz von Minderheiten an anderen Orten einzutreten? Die aktuelle Debatte über Entwicklungshilfe fördert politische Äußerungen zu Tage, die eher unter das Motto „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ passen. Mich bedrückt das. Denn wir leben in der Einen Welt und den Menschenrechten ordnen wir doch nicht zufällig das Adjektiv „universell“ zu.

Ich frage: Sind Werte ortsgebunden? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als Frau in Deutschland oder Afghanistan lebe? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als Demokrat in Großbritannien oder Russland lebe? Darf es wirklich darauf ankommen, ob ich als queere Person in New York oder Teheran lebe?

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es geht mir nicht um kulturelle Hegemonie. Ich möchte keiner Gesellschaft, keinem Land aus einer eurozentrischen Weltsicht heraus Vorschriften machen. Aber genau bei diesen Grundwerten des menschlichen Zusammenlebens darf es doch keine Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West geben.

Sie, verehrter Herr Gauck, haben dazu wie folgt Stellung bezogen (S. 137-138): „Demokratie wird für mich stets mit dem Moment der Befreiung von Unterdrückung und Ohnmacht verbunden bleiben.“ Und weiter: „Die liberale Demokratie verkörpert für mich ein System, das sich zur unantastbaren Würde des Einzelnen bekennt, ein System, in dem alle die gleichen Rechte haben, ein System, in dem niemand daran gehindert wird, sein Leben nach eigenen Fähigkeiten und Wünschen zu gestalten – außer er schädigt andere.“ Ihre Formulierung des kategorischen Imperativs sollte für uns alle Ansporn sein, eben nicht nur vor die eigene Haustüre zu schauen, sondern Demokratiebewegungen weltweit zu unterstützen. Denn nur eine liberale Demokratie, die von den Menschen erstritten und gleichsam verteidigt wird, bietet den Rahmen, in dem die universellen Menschenrechte zur Geltung kommen können – unabhängig, wo auf der Erde ein Mensch lebt.

Lieber Herr Gauck,

Mönchengladbach ist die richtige Stadt für Sie. Die Menschen sind sozial engagiert; das ist seit Jahrhunderten unsere Tradition. Gerade haben wir mit der ukrainischen Stadt Poltava eine Solidaritätspartnerschaft geschlossen. Mit dem Distrikt Offinso in Ghana verbindet uns eine Entwicklungspartnerschaft bereits seit 2004. Vor kurzem haben sich ein Jugendparlament und auch ein Seniorenrat konstituiert. Mit unseren europäischen Partnerstädten lebt gerade der freundschaftliche Austausch wieder auf und es ist mir eine große Freude und Ehre, meine Kollegin aus Roermond, Yolanda Hoogtanders, unter den Gästen zu wissen. In Roermond fiel der erste Schuss auf niederländischem Boden im Zweiten Weltkrieg. Heute sind wir eng in Frieden und Freundschaft verbunden. Welch wundervolle Wendung des Schicksals, gegründet auf der Verständigung zwischen den Völkern nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges, der von deutschem Boden ausging. Für mich die größte Leistung der Staatsmänner und –frauen in der Mitte Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wir sind heute hier versammelt, nicht nur, um Ihnen, Herr Gauck, zu gratulieren. Wir sind zusammengekommen, um an die Geschichte unserer Stadt zu erinnern und zu mahnen, dass es mutiger Menschen bedarf, die für unsere Werte einer liberalen Demokratie einstehen. Damit wir auf die Frage „Und wäre unsere Gesellschaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie notfalls mit Entschlossenheit zu verteidigen?“ geschlossen und unumstößlich antworten können: Ja.

Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch!

Es gilt das gesprochene Wort.

Rede von Ulrich Harnacke 

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine besondere Ehre, Sie alle heute zur Verleihung des Benediktpreises von Mönchengladbach willkommen zu heißen. Wir sind glücklich über unseren diesjährigen Preisträger, Herrn Bundespräsident a. D. Joachim Gauck. Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit und die Laudatio des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Mitglied des Landtags, Herrn Hendrik Wüst. Bitte begrüßen Sie mit den Genannten auch den Oberbürgermeister der Stadt Mönchengladbach, Herrn Felix Heinrichs, die Mitglieder des Landtages Jochen Klenner und Vanessa Odermatt sowie die Bürgermeister Yolanda Hoogtanders aus Roermond, Josephine Gauselmann, Petra Heinen-Dauber und Hajo Siemes aus Mönchengladbach.

Der heilige Benedikt von Nursia, dessen Name dieser in Kooperation mit der Stadt Mönchengladbach vergebene Preis trägt, gilt nicht nur als der erste Schutzpatron Europas, sondern steht mit seinem Ziel, Glaube und Vernunft in Einklang zu bringen, auch als ein Symbol für die Kraft, Brücken zu bauen – zwischen Menschen, Ideen und Kulturen. In einer Zeit des Wandels und der Unsicherheiten schuf er im Sinne benediktinischer Regeln die Grundlage für eine gelingende Gemeinschaft, für Dialog und für Verständnis. Seine Vision von Einheit in der Vielfalt ist heute aktueller denn je.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, Sie sind stets für Recht und Freiheit und Demokratie eingetreten und haben -auch in der Gegenwart- immer wieder das hohe Gut der Freiheit bewusst gemacht und dabei deren Rückbindung an die Verant-wortung betont: Freiheit ist nur möglich, wenn Verantwortung übernommen wird.

Hervorzuheben sind gerade in diesen, viele Menschen verunsichernden Krisenzeiten Ihre vermehrten Wortmeldungen: Sie vermitteln Klärung, Zuversicht und Mut – als unabhängige, erfahrene Stimme, besonnen und nah den Menschen. Mit Ihrer Haltung, die auf dem christlichen Wertefundament unserer freiheitlichen Demokratie gründet, und mit Ihrem klaren Blick für Recht und Unrecht wollen Sie durch positive Botschaften Vertrauen in die Stärke unserer Demokratie bewirken und Orientierung geben im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie tun dies stets mit hoher Überzeugungskraft und mit breiter Resonanz.

Sehr verehrter Herr Gauck, Ihre Lebensleistung und Ihre Stimme für Freiheit, Versöhnung und Menschlichkeit verkörpern genau diese Werte. Sie haben es verstanden, nicht nur zwischen Ost und West Brücken zu schlagen, sondern auch zwischen Herzen und Überzeugungen. Ihr unermüdliches Engagement für die Würde des Einzelnen und für die Stärkung unserer Demokratie macht Sie zu einem besonders würdigen Träger dieses Preises.

Lassen Sie uns heute gemeinsam feiern – nicht nur Ihre Verdienste, sondern auch das, wofür dieser Preis steht: die verbindende Kraft des Dialogs, den Mut zur Verständigung, auch wenn sie schwierig ist, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Menschen in Europa und in der Welt.

Ich danke Ihnen allen, dass Sie diesen besonderen Moment mit uns teilen.