Verleihung des Benediktpreises von Mönchengladbach

  1. Dezember 2024, Mönchengladbach

Dankesrede des Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck

Es gilt das gesprochene Wort.

Haben Sie herzlichen Dank für diese schöne Einladung nach Mönchengladbach. Einige von Ihnen wissen es vielleicht: Obwohl ich aus dem Norden stamme, empfinde ich eine besondere Verbundenheit zu Nordrhein-Westfalen und seinen Menschen. Ich komme immer wieder gerne in diesen Teil unseres Landes. Herr Ministerpräsident, ich danke Ihnen von Herzen für Ihre bewegenden Worte zu meinem Wirken.

Den Benediktpreis von Mönchengladbach nehme ich mit großer Dankbarkeit und zugleich mit Demut entgegen. Besonders freue ich mich darüber, dass das Kuratorium auf die enge Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung verwiesen hat, die zu betonen mir zeit meines erwachsenen Lebens wichtig war. Wenn wir Benedikts Namen nennen, erscheinen vor unserem geistigen Auge die langen Linien einer Glaubens-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des alten Europas. Das mönchische Lebensprinzip des „Ora et labora“ verweist uns auf eine Tradition, in der die Hinwendung zu Gott nicht automatisch zur Weltflucht führte, sondern auch zu einem verantwortungsvollen Dasein im Hier und Jetzt. Die wilden Landschaften der Natur und der menschlichen Seelen waren Arbeitsfelder der Mönche vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit. Dies und unzählige Taten der Nächstenliebe gehörten zu den Bausteinen eines Europas, in dem später die kostbare Idee der Demokratie entstand und schließlich politische Wirklichkeit wurde.

Allerdings müssen wir heute mit Erschrecken wahrnehmen, dass diese demokratische Wirklichkeit kein sicheres und unbedrohtes Gut darstellt. Besonders irritiert mich, der ich im Krieg geboren bin, dass Krieg wieder zu einem Mittel der Politik geworden ist.

Seit vielen Jahren schon agiert der Kreml-Herrscher in der internationalen Politik mit offener Aggression, neoimperialer Gewalt und hybrider Kriegsführung. Sein Angriff gilt aktuell der Ukraine, auf längere Hinsicht hingegen dem gesamten Westen. Dieser Wertegemeinschaft für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat Putin offen seine Feindschaft erklärt. Denn die Ideen des Westens sind ansteckend – schauen wir dieser Tage nur einmal auf die Straßen von Tiflis oder Batumi. Für den Kreml hingegen sind freie Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, eine Bedrohung. Daher bauen die russischen Behörden auch nach innen einen immer drakonischeren Repressions- und Angstapparat auf, in dem Rechtsbeugung, politische Drangsalierung und Mord an der Tagesordnung sind.

Wir dürfen uns nicht fürchten, Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn dies zunächst verstörend erscheinen mag. Wir haben diese Feindschaft zu Putins Russland nicht geschaffen. Wir haben sie zu unserem Schrecken wahrnehmen müssen. Und wir werden sie nicht aufheben können, wenn wir sie ignorieren oder uns schönreden. Russland bleibt langfristig, so lehren es die Fakten und so sagen es unsere Sicherheitsbehörden, die größte und unmittelbarste Bedrohung für unsere Sicherheit.

Seine Wirtschaft und Gesellschaft hat Russland inzwischen ganz auf Krieg ausgerichtet. Berichten zufolge produziert es mehr militärische Güter, als es für den Krieg gegen die Ukraine benötigt. In fünf bis acht Jahren dürfte es personell und materiell zu einem Angriff auf die NATO in der Lage sein. Selbst wenn es augenblicklich noch keine Hinweise für konkrete Absichten Moskaus gibt, wächst in den kommenden Jahren das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung. Dabei dürfte es Moskau gar nicht um „eine weiträumige Landnahme“ (BND-Präsident Bruno Kahl) gehen, sondern um ein Scheitern der NATO als Verteidigungsbündnis – um eine substanzielle Schwächung des Gegners. Moskau will spalten und testen: Würde die NATO tatsächlich zur Beistandspflicht stehen, wenn der Bündnisfall ausgerufen würde? Oder würde eine Politik von verlockenden Angebote einerseits und massiven Drohungen andererseits die europäischen Länder spalten? Würde eine zermürbende hybride Kriegsführung die freien Gesellschaften einschüchtern und das Verteidigungsbündnis zerbrechen lassen?

Zu lange waren wir zu arglos. Über Jahrzehnte war die deutsche Russlandpolitik von Fehleinschätzungen geprägt, von denen wir uns bis heute weiter befreien müssen. Eine der großen Illusionen war die Annahme, wirtschaftliche Verflechtungen könnten Frieden und Stabilität garantieren. Ich nenne nur das Stichwort Nordstream 2. Für diese Art der Partnerschaft braucht es glaubwürdige und verlässliche Partner auf der Gegenseite.  Während der 90er Jahre gab es noch ein zukunftsgerichtetes geregeltes Miteinander zwischen der NATO und Russland. Etwa seit 2005 hat Putin die Gegnerschaft zu Deutschland und dem Westen immer unverhohlener vorangetrieben. Er ist bis heute davon besessen, die „größte geopolitische Katastrophe“, wie er das Ende der Sowjetunion begreift, wettzumachen. Wir mussten lernen, dass es autoritäre Regime gibt, die kein Interesse an Dialog haben, sondern auf Machtpolitik und letztlich auf Unterwerfung setzen.

Und wir haben immer noch zu lernen, dass der Kreml schon jetzt und ganz ohne uniformierte Truppen die offenen Gesellschaften des Westens zu seinen Gunsten zu beeinflussen versucht. Dazu gehören Spionage und Sabotage, Cyberattacken auf Institutionen, Parteien und Personen. Dazu gehören aber auch Fakenews und Desinformation. An den politischen Rändern in Deutschland wird mit großem Eifer daran gearbeitet, zu verschleiern, wer Aggressor und wer Opfer im Ukrainekrieg ist. Auf zahllosen Webseiten wird das neoimperiale Russland als potenzieller Partner gepriesen, der uns billige Energie liefern könnte. Sie wollten den eigenen Wohlstand nicht für den Sieg in der Ukraine opfern, erklären empathielose Bürger – oder sind es bloß aus Russland bezahlte Trolle, die unsere demokratischen Diskurse vergiften? Wir hören auch gebetsmühlenartig vorgetragene Forderungen nach einem Ende der Waffenlieferungen und einem schnellen Friedensschluss. Es sind Erzählungen, die vom Geist der Unterwerfung infiziert sind und sich trefflich in die russische Staatspropaganda einfügen. Sie verbreiten sich über das Netz ebenso wie in Talkshowformaten. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird so Schritt für Schritt erschwert.

In Teilen der deutschen Bevölkerung nehme ich eine Zurückhaltung wahr, sich den beschriebenen vielfältigen Bedrohungen aus Russland entschlossen entgegenzustellen. Das hat auch mit Deutschlands Geschichte und seinem besonderen Verhältnis zum Frieden zu tun. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich in Europa ein tief verwurzeltes Friedensstreben. Doch Frieden hängt nicht allein vom guten Willen ab. Er verlangt auch die Bereitschaft, Werte zu verteidigen – wenn nötig, mit militärischer Entschlossenheit.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Putin ging es im Fall der Ukraine nie um ernsthafte Verhandlungen. Sein Ziel bleibt die vollständige Unterwerfung. Er will einen Vasallenstaat. Ohne entschiedene Gegenwehr wird er weitermachen, bis er die Ukraine die Knie gezwungen hat. Denn selbst die tapfersten Kämpfer und die leidensbereiten Bürger können ihr Land auf Dauer nicht ohne ausreichende Unterstützung und militärische Ausstattung verteidigen.

Wesentlich von uns, vom Westen hängt es ab, welcher Frieden für die Ukraine geschlossen wird. Wir müssen alles daran setzen, dass es nicht zu einem Diktatfrieden kommt. Das ist auch eine Lehre aus den Minsk-Prozessen. Wer für Frieden durch einen Stopp der Waffenlieferungen plädiert, stimmt einem Ausbluten der Ukraine zu und nimmt ihre vollständige Unterwerfung unter russische Kontrolle in Kauf. Aber auch, wer heute für eine Besonnenheit plädiert, die dem Opfer nicht erlaubt, ebenbürtig mit dem Aggressor zu verhandeln, muss später unter Umständen einen viel höheren Preis bezahlen. Ein Frieden zugunsten Putins eröffnet dann keine Nachkriegszeit, sondern eine Vorkriegszeit.

Krieg darf als Mittel der Politik in Europa nicht belohnt werden. Wir brauchen Geschlossenheit und Entschlossenheit gegenüber Putin. Nur ein Frieden durch Stärke weist dass kriegslüsterne Russland in seine Schranken – und sichert die Freiheit in der unabhängigen Ukraine ebenso wie den Frieden im demokratischen Europa. Ein Sieg Russlands hätte nicht nur weitere massive Fluchtbewegungen zur Folge. Er würde die Grundlagen des internationalen Rechts erschüttern und weltweit Autokraten ermutigen, ihre territorialen oder machtpolitischen Ambitionen mit Gewalt durchzusetzen.

Die Solidarität mit der Ukraine ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern eine strategische Notwendigkeit für Deutschland und Europa. Ganz ungeachtet dessen, welche Auswirkungen die Wahl des amerikanischen Präsidenten für die Ukraine und die NATO haben wird. Klar ist auf jeden Fall: Auf Europa und Deutschland kommt mehr Verantwortung zu. Wir brauchen eine Ostpolitik, die die europäische Einheit unseres Militärbündnisses wahrt und den Aggressor durch glaubwürdige Abschreckung von weiteren Angriffen abhält.

Deswegen benötigt die Ukraine gerade jetzt umso mehr die entschlossene Unterstützung des Westens. Sie braucht Waffen und Munition, um Putins zynische Kalkulation zu verändern und sich eine starke Position am Verhandlungstisch zu verschaffen. Und sie braucht eine verlässliche Sicherheitsgarantie durch den Westen für die Zeit nach einem Friedens- bzw. Waffenstillstandsbeschluss, um Putin von weiteren Raubzügen abzuhalten. So widersinnig es für manche auch klingen mag: Die Ukraine braucht Waffen für den Frieden.

Denken Sie nur daran, wie der Zweite Weltkrieg geendet hätte, ohne den Einsatz von unzähligen Soldaten und Waffen gegen den Aggressor. Über ganz Europa würde die Hakenkreuzfahne wehen.

Als Gesellschaft dürfen wir keine Scheu davor haben, die uns aufgezwungene Feindschaft von Putins Russland klar zu benennen. Dazu ist es notwendig, dass sicherheits- und verteidigungspolitische Prioritäten in der Mitte der Gesellschaft besprochen werden. Nur so kann der notwendige Mentalitätswandel vorangetrieben werden. Wir brauchen eine echte Zeitenwende – auch in den Köpfen der Menschen.

Die Grundlage dafür scheint mir gegeben, denn die Bevölkerung nimmt Russland mehrheitlich als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahr. Eine absolute Mehrheit befürwortet eine weitere Aufstockung der finanziellen und personellen Ressourcen der Bundeswehr. Es macht auch Mut zu sehen, dass immer mehr Menschen die Notwendigkeit erkennen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Besonders erfreulich ist der Zulauf, den Organisationen wie die freiwilligen Feuerwehren und das Technische Hilfswerk erfahren. Dieses Engagement zeigt, dass die Gesellschaft zusammensteht und sich für schwierige Zeiten rüstet – ein starkes Signal in herausfordernden Zeiten.

Wir dürfen uns nicht wieder der Illusion hingeben, dass Frieden und Sicherheit selbstverständlich sind. Wir spüren vielmehr: Recht, Freiheit, Demokratie und die damit verbundene Verantwortung, die uns allen als Bürgerinnen und Bürger einer freien Gesellschaft auferlegt ist, sind Errungenschaften, die es aktiv zu bewahren und gegen ihre Feinde zu verteidigen gilt. Die Werte, für die wir stehen, und die Gemeinschaft, die wir bilden, sind unsere stärksten Waffen gegen Aggression und Spaltung. Anstatt unseren Ängsten zu folgen, sollten wir Mut und Entschlossenheit wählen. Angst zu empfinden, ist menschlich. Aber wir dürfen nie vergessen: Auch Mut ist eine menschliche Möglichkeit.

Wenn Sie zur Weihnachtszeit überlegen, wohin Sie spenden können: Denken Sie an die Menschen in der Ukraine, die ihr Land im anbrechenden dritten Kriegswinter weiterhin so tapfer verteidigen. Das heutige Preisgeld geht für humanitäre Zwecke an die ukrainische Botschaft.

In diesem Sinne bedanke ich mich für die Auszeichnung mit dem Benediktpreis von Mönchengladbach.