Es gilt das gesprochene Wort.
Laudatio von Ministerpräsident Hendrik Wüst MdL
auf Bundespräsidenten a.D. Joachim Gauck anlässlich der Verleihung des Benediktpreises Mönchengladbach 2024
Donnerstag, 5. Dezember 2024
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Heinrichs, sehr geehrter Herr Prof. Kania,
sehr geehrter Herr Harnacke,
sehr geehrte Mitglieder des Kuratoriums und des Vorstands des Benediktpreisvereins,
ich grüße die Abgeordneten des Landtags Vanessa Odermatt und Jochen Klenner, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Hoogtanders,
meine Damen und Herren und vor allem: verehrter Herr Bundespräsident, lieber Joachim Gauck,
„Ora et labora“ – so lautet das Motto der Benediktiner. Des Ordens, der über Jahrhunderte die Stadt Mönchengladbach geprägt und ihr ihren Namen gegeben hat. Des Ordens, nach dem auch der Benediktpreis benannt ist. „Ora et labora“ – das Motto passt auch sehr gut zu der Persönlichkeit, die wir heute ehren: „Bete und arbeite“. Reflexion und Aktion. Das verkörpert der heutige Preisträger Joachim Gauck in Reinform.
Haltung und Wirken von Joachim Gauck sind ganz wesentlich in seiner Biographie begründet.
Joachim Gauck hat schon als Kind begriffen, dass sich hinter der fürsorglichen Fassade des SED-Regimes ein brutaler Staatsapparat verbarg. Sein eigener Vater wurde Anfang der 1950er Jahre wegen vermeintlicher Spionage und antisowjetischer Hetze nach Sibirien verschleppt. Erst nach vier Jahren kehrte er zurück – als gebrochener Mann.
Joachim Gauck machte fortan deutlich, wie wenig er von diesem Staat hielt. Als Folge durfte er seine Wunschfächer – Journalismus und Literatur – nicht studieren. So war das in der DDR: Wer es wagte zu widersprechen, wer seine Stimme erhob, der sollte kleingemacht und kleingehalten werden.
Aber Joachim Gauck ließ sich nicht kleinmachen: In der Theologie fand er einen Raum der intellektuellen Unabhängigkeit. Einen Gegenentwurf zum Leben in einem repressiven Staat. Er wurde schließlich zum unüberhörbaren Prediger der Freiheit.
„Wir werden bleiben, wenn wir gehen dürfen“, rief er 1988 auf dem Rostocker Kirchentag. Er selbst aber dachte nicht an Ausreise. Sein Credo: Nur von innen heraus, nur durch Engagement lässt sich etwas verändern.
Nach dem Ende der SED-Diktatur kämpfte Gauck unermüdlich darum, dass die Stasi-Akten nicht nur erhalten blieben, sondern auch erforscht und zugänglich gemacht wurden. Joachim Gauck weiß: Eine Gesellschaft muss sich auch ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen. Nur dann können Wunden heilen.
Die Antwort von Joachim Gauck auf die Repressionen des SED-Regimes war Klarheit: In den eigenen Werten, in der eigenen Haltung, in seinen Taten. Klarheit hat sein Wirken geprägt als Pastor in der DDR, als Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR und nach der Friedlichen Revolution als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde.
Ihre Klarheit hat Sie, lieber Joachim Gauck, auch als unser Staatsoberhaupt ausgezeichnet. Die politischen Einflussmöglichkeiten eines Bundespräsidenten sind begrenzt. Sein wichtigstes Werkzeug ist das Wort.
Joachim Gauck wusste es zu nutzen.
Verehrter Herr Bundespräsident, Sie haben Debatten angestoßen. Die vielen Begegnungen mit den Menschen in allen Teilen der Republik haben Sie genutzt, um diese Debatten ins Land zu tragen. Nie belehrend, sondern immer fragend, immer neugierig, immer auf der Suche nach Begegnung, immer den Menschen zugewandt.
Sie haben die Menschen ermutigt und ihnen zugetraut, auch Anstrengendes auszuhalten. Und Sie haben auch als Bundespräsident unbequeme Wahrheiten klar ausgesprochen. Bei uns sagt man: Der kann Tacheles reden!
Anfang 2014 hat Joachim Gauck eine ungewöhnlich klare und weitsichtige Position zu Deutschlands internationaler Rolle formuliert. Das war noch vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und vor dem Donbass- Krieg.
Der Kernsatz seiner Rede bei der 50. Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 lautete: „Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.“ Er warnte vor moralischer Selbstgerechtigkeit. Davor, sich hinter der deutschen Geschichte zu verstecken. Davor, dass auch Nicht- Handeln Konsequenzen hat. Er mahnte an, wir Deutschen müssten mehr für unsere eigene und die internationale Sicherheit tun.
Joachim Gauck hat damals vieles von dem vorweggenommen, was uns heute beschäftigt. Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat unvorstellbares Leid verursacht und die europäische Sicherheitsarchitektur schwer erschüttert. Erst seitdem beschäftigen wir uns in Deutschland ernsthaft mit der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Umso aktueller und klarsichtiger sind die Warnungen von Joachim Gauck von vor zehn Jahren gewesen.
Lieber Joachim Gauck, Sie ermutigen uns, aus der deutschen Nachkriegsgeschichte positivere Schlüsse zu ziehen und uns selbst zu vertrauen. Sie erinnern uns daran, dass wir friedfertig und wehrhaft zugleich sein können. Deutschland muss diese Fähigkeit neu erlernen. Für dieses Umdenken haben Sie wichtige und weitsichtige Impulse gegeben. Herzlichen Dank, lieber Herr Bundespräsident.
Unvergessen bleibt Ihr Satz aus September 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“. Sie haben damals sehr vielen Menschen aus der Seele gesprochen. Gerade auch den engagierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und vielen Ehrenamtlern, die die Grenzen der Belastbarkeit gespürt haben. Die vielfach schon da überlastet
waren. Sie haben diese Worte gewählt, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – sich in der damaligen öffentlichen Debatte kaum jemand getraut hat, so etwas zu sagen. Sie haben ein Dilemma benannt, das uns bis heute – fast zehn Jahre später – weiter beschäftigt. Bis heute ist unser Land auf der Suche nach einem guten Gleichgewicht zwischen Humanität und Ordnung in der Flüchtlingspolitik. Ihre Aussage ist dabei wegweisend geblieben. Wäre sie früher auch handlungsleitend geworden: Ich bin sicher, wir hätten heute einige Herausforderungen weniger in unserem Land.
Joachim Gauck hat unsere Gesellschaft immer als Bürgergesellschaft verstanden. Als Gesellschaft, die von Bürgerinnen und Bürgern getragen wird. Als Gesellschaft, die von einer lebendigen Demokratie geprägt wird. Die Demokratie an der Basis zu stärken, ist deshalb eines seiner größten Anliegen. Joachim Gauck wirbt für Toleranz, für einen lebendigen Austausch mit Andersdenkenden. Er warnt davor, unbequeme Positionen vorschnell mit dem Etikett des Populismus zu versehen und aus dem Diskurs auszugrenzen. Er pocht darauf, dass bei allen Kultur- und Wertekonflikten der nötige Respekt für das Gegenüber und für seine Lebensleistung erhalten bleiben.
Lieber Herr Gauck, die Haltung, die Sie vorleben – neugierig, empathisch und zugleich wertebewusst und entschlossen – ist für unsere Gesellschaft zukunftsweisend. Ihr Stil – streitbar, aber nie konfrontativ – ist das Ideal des demokratischen Miteinanders. Sie erinnern uns alle, dass die „Demokratie kein politisches Versandhaus ist“ (Rede zum Ende der Amtszeit 2017) und deswegen nur funktionieren kann, wenn aktive Bürger Einfluss nehmen.
Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn viele Bürgerinnen und Bürger sich entscheiden, ihren Blick auf Chancen und Potenziale statt auf Gefahren und Verluste zu richten. Wenn viele Bürgerinnen und Bürger die vielfältigen Möglichkeiten der politischen Gestaltung nutzen und diese als wirksam und ermächtigend erleben. In Ihren Worten: „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung.“
Lieber Herr Gauck,
von Ihnen kamen wichtige Impulse zu vielen Themen: Zur Frage, wie es um Chancengerechtigkeit in der Bildung steht
Zur Rolle der individuellen Verantwortung im Sozialstaat. Um nur zwei zu nennen.
Ihr Glaube an die Lernfähigkeit einer Demokratie ist unerschütterlich. Gerade weil Sie die Diktatur schmerzlich kennengelernt haben, wissen Sie um die Stärken der Demokratie. Und Sie haben diese Stärken auch im Ausland offen benannt und beworben, ohne jemals belehrend zu sein. Demokratien zeichnet die Fähigkeit zur Selbstkorrektur aus. Darin liegt ihre Kraft. Ja, Demokratie ist meistens anstrengend, bisweilen gar frustrierend. Aber durch Wahlen, das Mitmachen in Parteien und Verbänden, durch Mitbestimmung oder auch Protest besteht immer die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und es besser zu machen.
Den Glauben an die Stärke und die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie brauchen wir heute dringender denn je. Auch in Deutschland und in Europa verlieren viele Menschen das Vertrauen, dass der Staat mit den Problemen zurechtkommen kann: Bei Fragen der Sicherheit, der Migration, der Wirtschaftspolitik.
Es ist unsere Aufgabe als Demokraten der Mitte mit unserer Politik für neues Vertrauen zu sorgen. Es ist unsere Aufgabe, unsere Demokratie stark zu machen. Wir müssen die Menschen für unsere Demokratie begeistern. Die Menschen müssen in ihren Herzen spüren: Es gibt nichts Besseres als unsere Demokratie.
In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Ein berühmtes Bild zeigt, wie Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates das gerade verabschiedete Grundgesetz in Bonn mit Tinte unterzeichnet. Die Gründungsstunde unserer Demokratie. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist es gelungen, unser Grundgesetz in die Form synthetischer DNA zu bringen. Forensiker wissen: DNA ist nahezu unzerstörbar.
Ich habe die Freude und Ehre, verehrter Herr Bundespräsident, Ihnen heute einen Füller zu schenken. In diesem Füller befindet sich Tinte, die diese synthetische DNA und damit das gesamte Grundgesetz enthält. Das klingt ein bisschen nach Science- Fiction. Aber es ist so: Wer diese DNA entschlüsselt, hat das gesamte Grundgesetz
vor sich. Was immer Sie mit dieser Tinte schreiben – der Geist des Grundgesetzes schreibt mit. Und damit schließt sich ein schöner Kreis: Denn Sie, lieber Joachim Gauck, stehen für die Werte dieses Grundgesetzes und damit unserer freiheitlichen Demokratie wie wohl kaum ein Zweiter.
Joachim Gauck ist nun seit sieben Jahren Bundespräsident a.D., wie es im Amtsdeutsch heißt. Außer Dienst aber ist er nicht. Auch kurz vor seinem 85. Geburtstag ist er überaus präsent: in der öffentlichen Debatte, durch seine Reden und Auftritte, durch seine Besuche bei gemeinnützigen Initiativen und Vereinen.
Joachim Gauck ist jemand, der etwas zu sagen hat, dessen Wort gehört wird und Gewicht hat. Joachim Gauck ist jemand, der nicht nur beeindruckt, sondern inspiriert.
Verehrter Herr Bundespräsident, Sie sind ein Menschenrechtsverteidiger. Sie sind ein Mutmacher. Sie geben Zuversicht: Der Preis, den Sie heute erhalten, steht für unsere christlichen Wurzeln und für die bürgerlichen Errungenschaften der Aufklärung. Beide Traditionen verbinden sich in Ihrem Wirken zum Wohle unseres Landes: Für ein freiheitliches und demokratisches Deutschland, das sich selbst vertraut und für das Gute eintritt.
Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Benediktpreis!